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Hilty forderte das Frauenstimmrecht bereits 1897   (von Robert Jörin)

 

 

Im Jahr 1873 wurde der Werdenberger Carl Hilty zum Professor für Staatsrecht an die Universität Bern berufen. In dieser Zeit machte die Schweiz den ersten Schritt zur direkten Demokratie: 1874 mit der Einführung des Referendumsrechts. Der zweite Schritt erfolgte 1891 mit der Einführung des Initiativrechts. Für Carl Hilty hatte die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozess oberste Priorität. Aber damals galt das ja nur für die Männer. Für ihn war es absolut logisch, dass dieses Recht auch für die Frauen gelten müsse. 1897 schrieb er in seinem Aufsatz zum Frauenstimmrecht: «Der Staat tut sich selbst einen grossen Schaden, wenn er die ganze Hälfte seiner Bürger des Rechtes, sich für die öffentlichen Interessen zu interessieren, und damit notwendig auch der Fähigkeit dazu beraubt. Die Freiheit besteht wesentlich darin, dass man an der Gesetzgebung teilnimmt ... Wir betrachten unsererseits das Frauenstimmrecht als den praktischen Kern der Frauenfrage.»    ‒   Carl Hilty argumentierte, dass erst mit der Beteiligung der Frauen der Ausbau der demokratischen Rechte eine breitere und solide Basis bekomme. Deshalb war für ihn die Frage des Frauenstimmrechts «die weitaus grösste der noch zur Lösung ausstehenden Staatsfragen». Er entwarf einen Artikel für die Bundesverfassung, der seiner Ansicht nach von «kommenden Generationen» auf dem Weg zur Gleichberechtigung ohne Bedenken aufgenommen werden könnte. (Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1897).

 

Staatliche Hindernisse, die das Leben der Frauen einschränkten   ‒  Als Mitglied des Nationalrates genoss Carl Hilty hohen Respekt. Das zeigte sich bei der Frage, welche Rolle die Frauenorganisationen spielen sollten. Der Schweizerisch Gemeinnützige Frauenverein (SGF) wollte «Politik» und «Gemeinnützigkeit» klar trennen. Dem trat er in seinem Brief vom 25. Juli 1900 entschieden entgegen. Er wies auf die vielen staatlichen Vorschriften und Hindernisse hin, die das Leben der Frauen einschränkten. Die Beseitigung dieser Hindernisse «gehört in das Gebiet der Politik». Damit müsse sich der SGF befassen, wenn er nicht «vollständig ratlos oder abhängig bleiben» wolle. Er schlug eine Dachorganisation vor, einen grossen Verbund, innerhalb dessen jede Organisation noch gut ihre «besonderen Interessen» verfolgen könne.

 

Enorme Leistung der Frauen in schwierigen Zeiten     Carl Hilty hat die Zeit um die Jahrhundertwende als Zeit des Umbruchs verstanden. Zum eigentlichen Durchbruch beim Frauenstimmrecht ist es jedoch nicht gekommen. Zwar wurden im Parlament immer wieder Vorstösse unternommen, und 1919 reichten 165 Frauenorganisationen eine Petition ein, die vom Nationalrat angenommen wurde. Die parlamentarische Behandlung wurde jedoch wegen «dringender Probleme» immer wieder hinausgeschoben. Damit zeigt sich, wie weit die Politik von Carl Hiltys Forderung nach Gleichberechtigung entfernt war. In Anbetracht der enormen Leistungen, die Frauen gerade in den schwierigen Zeiten erbracht haben, ist dies schwer verständlich.

 

(Erstdruck:  Werdenberger & Obertoggenburger vom Freitag, 5. Februar 2021, Seite 3)